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Das öffentliche Leben in Deutschland ist seit einem Monat weitgehend heruntergefahren. Viele Betriebe mussten aufgrund infektionsrechtlicher Verordnungen der Bundesländer schließen. Somit können diese Betriebe seit derzeit keine nennenswerten Umsätze erzielen. Der wirtschaftliche Schaden in den Betrieben ist immens, doch wer kommt für diesen Schaden auf? Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1981 zeigt, dass sich aus § 56 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) ein Entschädigungsanspruch ableiten lässt (BVerfG vom 29.4.1981, Az. 1 BvL 11/78).

§ 56 Abs. 1 IfSG lautet:

„Wer auf Grund dieses Gesetzes als Ausscheider, Ansteckungsverdächtiger, Krankheitsverdächtiger oder als sonstiger Träger von Krankheitserregern im Sinne von § 31 Satz 2 Verboten in der Ausübung seiner bisherigen Erwerbstätigkeit unterliegt oder unterworfen wird und dadurch einen Verdienstausfall erleidet, erhält eine Entschädigung in Geld.“

Es kommt somit darauf an, ob der Inhaber eines Restaurants, der Ladenbesitzer, die Schauspielerin oder die Konzertveranstalterin einem „Verbot der bisherigen Erwerbstätigkeit“ unterworfen ist und ob dieses Verbot darauf beruht, dass die betreffende Person zumindest „Ansteckungsverdächtiger“ ist. Dass Betriebsschließungen ein „Verbot der bisherigen Erwerbstätigkeit“ bedeuten, wird man schwerlich bezweifeln können. Die Betriebsschließungen sind jedoch keine Maßnahme, die sich gegen „Krankheitsverdächtige“ (§ 2 Nr. 5 IfSG) oder „Ansteckungsverdächtige“ (§ 2 Nr. 7 IfSG) richtet. Der Juwelier muss seinen Laden auch dann schließen, wenn es zu keinem Zeitpunkt den Verdacht gab, dass sich ein Infizierter in den Geschäftsräumen aufgehalten hat. Dies mutet auf den ersten Blick befremdlich an und wirft die Frage auf, ob die Unterscheidung dem Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 GG) gerecht wird.

Entscheidung des Bundesverfassungsgericht 1981 zum Bundes-Seuchengesetz

Das BVerfG war 1981 damit konfrontiert, die Verfassungsmäßigkeit der Entschädigungsregelungen des Bundes-Seuchengesetzes (BSeuchG) zu überprüfen. Das Bundes-Seuchengesetz war der Vorläufer des IfSG. § 49 BSeuchG entsprach dem heutigen § 56 IfSG. Und § 49 Abs. 3a BSeuchG traf bis Ende der 1970er-Jahre folgende Regelung:

„Bei einer Existenzgefährdung können den Entschädigungsberechtigten die während der Verdienstausfallzeiten entstehenden Mehraufwendungen auf Antrag in angemessenem Umfang von der zuständigen Behörde erstattet werden. Selbständige, deren Betrieb oder Praxis während ihrer Absonderung ruht, erhalten neben der Entschädigung nach den Absätzen 2 und 3 auf Antrag von der zuständigen Behörde Ersatz der während der Absonderung weiterlaufenden nicht gedeckten Betriebsausgaben in angemessenem Umfang.“

Für laufende Betriebskosten unterschied § 49 Abs. 3a BSeuchG in Satz 2 somit zwischen Betriebsinhabern „in Absonderung“ (d.h. in Quarantäne), deren Betriebskosten die Entschädigungsbehörde übernahm, und anderen Betriebsinhabern, bei denen es keinen solchen Erstattungsanspruch gab. Das BVerfG hatte zu entscheiden, ob diese Unterscheidung gleichheitswidrig war (Art. 3 GG).

Es ging um einen Fall aus Niedersachsen. Der Kläger betrieb als Selbstständiger einen ambulanten Milch- und Lebensmittelhandel, indem er von einem Lieferwagen aus in den Straßen seine Waren anbot und verkaufte. Nachdem sein Sohn an Scharlach erkrankte, wurde es dem Kläger aufgrund des Ansteckungsrisikos untersagt, für eine Dauer von sechs Tagen sein Geschäft zu betreiben. Das Land Niedersachen als Entschädigungsverpflichteter gewährte dem Kläger eine Dienstausfallentschädigung, lehnte jedoch die darüber hinaus vom Kläger nach § 49 Abs. 3a BSeuchG a.F. geforderte Entschädigung seiner nicht gedeckten Betriebsausgaben in Höhe von 1005 DM ab mit der Begründung, die Vorschrift sei nach ihrem Wortlaut nicht auf Tätigkeitsverbote anzuwenden.

Das BVerfG gab dem Land Niedersachsen recht und verneinte einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG):

  • Ein Tätigkeitsverbot unterscheide sich von einer Quarantäne-Anordnung. Anders als bei einer Quarantäne-Anordnung könne der Betroffene bei einem Tätigkeitsverbot seine Arbeitskraft anderweitig verwenden.
  • Anhand der Gesetzesmaterialien lasse sich belegen, dass die Ungleichbehandlung auf einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers beruhe.
  • Bei einem „kurzfristigen Tätigkeitsverbot“ seien die anfallenden Betriebskosten, die nicht erstattet werden, „im Allgemeinen nicht allzu erheblich“.

Zusammenfassend hielt das BVerfG fest (und formulierte zugleich sehr vorsichtig):

„Bei dieser Sachlage reichen die Unterschiede zwischen den betroffenen Gruppen jedenfalls im Normalfall aus, um den Abgesonderten durch eine typisierende Entschädigungsregelung günstiger zu stellen als andere Selbständige.“

Die Unterscheidung zwischen „Abgesonderten“ und den Betroffenen von Tätigkeitsverboten ist schon lange Rechtsgeschichte. § 56 Abs. 4 IfSG ist die Nachfolgenorm des § 49 Abs. 3a BSeuchG a.F. und kennt eine solche Unterscheidung nicht.

Heutige Rechtslage:

§ 56 Abs. 1 IfSG wirft jedoch in der heutigen Situation eine Rechtsfrage auf, die dem damaligen Streit um die Ungleichbehandlung von Betroffenen vergleichbar ist. Warum spricht § 56 Abs. 1 IfSG dem Zahnarzt, der wegen Ansteckungsgefahr seine Tätigkeit nicht ausüben darf, einen Entschädigungsanspruch zu, nicht jedoch dem kerngesunden Gastronomen, der sein Restaurant seit einem Monat nicht öffnen darf, obwohl kein Ansteckungsverdächtiger dort je gesehen wurde. Lässt sich auch diese Ungleichbehandlung rechtfertigen (Art. 3 GG)?

Anders als in dem BVerfG-Fall aus dem Jahre 1981 wird man heute keine Gesetzesmaterialien finden, die belegen, dass der Ungleichbehandlung eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers zugrunde liegt. Denn der Gesetzgeber hat zu keinem Zeitpunkt eine bewusste Entscheidung zu den Entschädigungsfolgen von branchenweiten Betriebsschließungen getroffen. Branchenweite Betriebsschließungen sind – anders als berufliche Tätigkeitsverbote bei Ansteckungsverdacht (§ 31 IfSG) – im gesamten IfSG allenfalls als „sonstige Maßnahmen“ (§ 28 IfSG) vorgesehen, konkrete rechtliche Maßgaben für branchenweite Betriebsschließungen finden sich im gesamten IfSG nicht.

Anders als 1981 geht es derzeit auch nicht um „kurzfristige“ Betriebsschließungen von wenigen Tagen, bei denen eine Ungleichbehandlung Folgen hat, die „im Allgemeinen nicht allzu erheblich“ sind. Für viele Betriebe steht die Existenz auf dem Spiel, ohne dass ein sachlicher Grund dafür ersichtlich ist, dass sie nur deshalb keine Entschädigung erhalten sollen, weil sie nicht wegen eines konkreten „Ansteckungsverdachts“ geschlossen worden sind.

Auch wenn man einmal davon ausgeht, dass die Betriebsschließungen rechtmäßig sind und sich verfassungskonform auf die Rechtsverordnungen der Bundesländer und auf § 32 IfSG stützen können, fehlt es doch an einem sachlichen Grund, der es rechtfertigen würde, den Betriebsinhabern einen Entschädigungsanspruch nach § 56 IfSG zu versagen. Dies gilt umso mehr, als hinter § 56 IfSG das gewohnheitsrechtliche Institut des „enteignenden Eingriffs“ steht, der demjenigen einen Entschädigungsanspruch zuerkennt, der sich für das Gemeinwesen „aufopfert“ und im Interesse der Gemeinschaft ein „Sonderopfer“ erbringt.

Sollten sich die Betriebsschließungen als rechtswidrig erweisen, weil die Krücke der „sonstigen Maßnahmen“ in § 28 Abs. 1 IfSG nicht trägt, besteht der Entschädigungsanspruch erst recht, da in einem solchen Fall die Voraussetzungen eines entschädigungspflichtigen „enteignungsgleichen Eingriffs“ vorliegen würden.

Jede Wette: Es wird viele Prozesse um Entschädigungen nach dem Infektionsschutzgesetz geben. Allen Betroffenen ist zu raten, diese Ansprüche bei den Entschädigungsbehörden anzumelden.