Das Verwaltungsgericht Berlin hat sich mit einem von uns erstrittenen Beschluss vom 8.7.2025 für den Schutz von Szenevierteln und gegen bezirkliche Einschränkungen zur Nutzung der Terrasse einer Bar in einem Ausgehviertel in Prenzlauer-Berg ausgesprochen (Az.: 4 L 66/25).
In einem Eilverfahren hat das Verwaltungsgericht Berlin entschieden, dass nur wenige Anwohnerbeschwerden und abstrakte Lärmprognosen nicht ausreichen, um Außengastronomie zeitlich einzuschränken. Gerade die Lage in einem Szenekiez führe dazu, dass Gastronomen ein starker Schutz gegen Einschränkungen zustehe.
I. Der Sachverhalt: Jahrzehntelange Außengastronomie im Kiez etabliert
Der Antragsteller betreibt seine Schankwirtschaft in der Kastanienallee bereits seit mehr als 30 Jahren. Bei dieser gehört die Nutzung der Außenfläche zum Betriebsmodell dazu. Hier wird gerade im Sommer ein ganz wesentlicher Teil des Umsatzes gemacht.
Die Kastanienallee ist über die Grenzen Berlins, nicht nur für ihre vielfältige Gastronomieszene bekannt, sondern auch als Flaniermeile. In der Kastanienallee und gerade an der Ecke zur Oderberger Straße ist damit „ständig eine Menge los“. Es reihen sich viele Bars, Kneipen, Spätis und Restaurants aneinander. Viele dieser Lokale betreiben Außengastronomie, bis regelmäßig Mitternacht, zum Teil auch bis 4 Uhr morgens. Zahllose Touristen und Berliner:innen bewegen sich zu jeder Uhrzeit auf der Kastanienallee, ziehen von Gaststätte zu Gaststätte oder verweilen auf der Straße. Daneben sorgen Straßenverkehr, U-Bahn und Tram als auch die nahegelegene Feuerwache für eine durchgängige Geräuschkulisse.
Aufgrund vereinzelter Beschwerden von Anwohnenden sah sich das Bezirksamt zum Handeln gezwungen und verkürzte die Öffnungszeiten der Außengastronomie des Antragstellers unter der Woche um fünf Stunden und sechs Stunden am Wochenende.
Diese Einschränkung hätten gerade in der Sommersaison zu massiven Umsatzeinbußen geführt.
II. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts: Sperrzeitverkürzung unverhältnismäßig
Das VG Berlin hat der Verkürzung der Öffnungszeiten eine klare Absage erteilt. Das Gericht hielt sie für unverhältnismäßig und prognostizierte, dass sich die Sperrzeitverkürzung im Hauptsacheverfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit als rechtswidrig erweisen werde.
Nach § 18 Abs. 1 GastG i.V.m. § 8 Abs. 1 GastV Bln kann die Sperrzeit für Gaststätten unter bestimmten Voraussetzungen geändert werden. Dazu müssen jedoch besondere Umstände oder öffentliche Verhältnisse vorliegen, die eine Abweichung von den gesetzlichen Sperrzeiten rechtfertigen. Diese beginnt gemäß § 6 Abs. 1 GastV Bln um 5:00 Uhr und endet um 6:00 Uhr.
Eine Verkürzung der gesetzlichen Sperrzeiten stelle stets einen Eingriff in die Berufsfreiheit des Gastronomen gemäß Art. 12 Abs. 1 GG dar. Als solche bedarf sie einer besonderen Rechtfertigung. Diese hängt vom Einzelfall ab und kann innerhalb der notwendigen Interessenabwägung auch unter Berücksichtigung der Umstände im Kiez sehr gut zugunsten der Gastronomen ausfallen.
Im Wesentlichen hat das Verwaltungsgericht Berlin seine Entscheidung mit den folgenden 5 Argumentationslinien begründet:
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Standort in Szenekiez
Das Verwaltungsgericht stellte fest, dass die jahrzehntelange, organische Entwicklung der Kastanienallee von erheblichem Gewicht ist. Die Kastanienallee sei ein touristisches und gastronomisches Zentrum Berlins, das von unterschiedlichsten Lärmquellen geprägt sei. So wären neben Gaststätten auch Faktoren wie Straßenbahnverkehr, Straßenlärm und Einsätze der nahegelegenen Feuerwehr miteinzubeziehen. Der Kiez habe sich über Jahrzehnte entwickelt und werde gerade wegen seines jahrzehntelangen Bestehens von einer breiten sozialen Akzeptanz getragen.
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Geringe Anzahl von Beschwerden
Das Gericht wertete die geringe Anzahl von Beschwerden aus der direkten Nachbarschaft als ein Indiz gegen eine besondere Störungssituation und für eine soziale Akzeptanz. Die dokumentierten Beschwerden stammten überwiegend von einer einzelnen Person, welche von der Gaststätte so weit entfernt wohnt, dass sie von unzumutbaren Lärmimmissionen nicht betroffen sein könne. Damit seien diese Beschwerde nicht qualifiziert und folglich auch nicht berücksichtigungsfähig.
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Abstrakte Lärmprognose reicht nicht
Ob eine erhebliche Lärmbelästigung vorliegt, bleibt einer tatrichterlichen Würdigung im konkreten Einzelfall vorbehalten. Abstrakte Immissionsprognosen die sich schlicht an der TA Lärm orientieren würden nicht ausreichen. Sie könnten allenfalls ein Indiz sein. Es seien einzelne Schallereignisse, ihre Schallpegel, ihre Eigenart (Dauer, Häufigkeit, Impulshaltigkeit) und ihr Zusammenwirken zu beurteilen und dabei müssten wertende Elemente, wie Herkömmlichkeit, soziale und allgemeine Akzeptanz der Lärmquellen einbezogen werden.
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Vorverlegung der Sperrzeit muss besonders gerechtfertigt werden
Die Vorverlegung der Sperrzeit als Ausnahme vom gesetzlichen Regelfall muss besonders gerechtfertigt werden. Dafür müssten einerseits erhebliche Lärmbelästigungen im konkreten Einzelfall vorliegen und andererseits die örtlichen Verhältnisse es gerade rechtfertigen, von den gesetzlichen Vorstellungen abzuweichen. Letzteres könne man in einem Szenekiez gerade nicht annehmen, weil dort der Betrieb von außengastronomischen Angeboten weit nach 22:00 Uhr der Standard sei.
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Maßnahme muss im Einzelfall geeignet sein, den Lärm im Kiez zu verringern
Das Gericht äußert erhebliche Zweifel daran, dass die Vorverlegung der Sperrzeiten in einem Kiez wie der Kastanienallee überhaupt geeignet ist, Lärm zu reduzieren. Denn wie eingangs bereits dargelegt gibt es zahlreiche Lärmquellen, insbesondere Verkehrslärm und Menschen, die sich außerhalb von Gaststätten auf der Straße aufhalten, bspw. mit einem Wegbier vom Supermarkt. Daher werde die Vorverlegung der Schließzeit aller Wahrscheinlichkeit nach nicht dazu führen, den Lärm zu verringern.
III. Fazit:
Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin verdeutlicht, dass eine Vorverlegung von Sperrzeiten oder andere Einschränkungen für Gaststätten gut begründet sein müssen.
Es reicht nicht aus, auf vereinzelte Beschwerden oder allgemeine Prognosen zu verweisen. Erforderlich ist eine umfassende, einzelfallbezogene Würdigung aller relevanten Umstände. Dazu zählen nicht nur in der Theorie übertragbare Lärmwerte und Beschwerden. Vor allem muss darauf geachtet werden, wo sich die Gastronomie befindet, welche anderen Immissionsquellen es gibt und inwieweit Immissionen herkömmlich und akzeptiert sind.
Das Verwaltungsgericht Berlin macht sich mit seiner Entscheidung für die Rechte von Gastronomen stark und stellt klar, dass ein historisch gewachsener und kulturell wichtiger Kiez schützenswert ist und eine Daseinsberechtigung hat, die nicht ohne weiteres von Einzelpersonen torpediert werden kann.
Für Behörden bedeutet dies zugleich, dass Maßnahmen gegen Gaststätten auf einer belastbaren Tatsachengrundlage und nicht auf Annahmen oder vereinzelten Beschwerden beruhen müssen.
Die Entscheidung ist übertragbar auf ganz Deutschland. Vergleichbare „Ausgehviertel“ oder Szenekieze gibt es in vielen deutschen Großstädten.