Der EuGH hat mit Urteil vom 10.9.2024 (Az. C-48/22) die 2022 vom EuG für rechtmäßig befundene Strafe in Höhe von 2,4 Mrd. Euro gegen den Google-Konzern bestätigt. Damit ist einer der Meilensteine der jüngeren Rechtsprechung im Kartellrecht rechtskräftig geworden. Das Urteil setzt sich detailliert mit den Argumenten von Google auseinander und verschafft Klärung für die „essential facilities“-Doktrin.
A. Sachverhalt
Gegenstand des Rechtsstreits ist die Behandlung von Google Shopping Ergebnissen im Vergleich zu anderen Preisvergleichssuchmaschinen im Rahmen der Google Suche. Es geht insbesondere um eine ab spätestens 2020 von Google eingeführte Praxis, wodurch Google Shopping Ergebnisse direkt auf der Startseite der Google Suche mit eigenen Kacheln, Bildern und anderen „Rich Links“ angezeigt wurden, während Ergebnisse von anderen Preisvergleichsdiensten nur als „normale“ blaue Links sichtbar waren. In dieser Ungleichbehandlung sah die Kommission einen Missbrauch marktbeherrschender Stellung gem. Art. 102 AEUV.
B. „Missbrauch eigener Art“ oder „essential facilities“
Schon im Verfahren vor dem EuG 2022 war eines der zentralen Argumente von Google, dass der Fall an der vom EuGH entwickelten „essential facilities“-Doktrin zu messen wäre. Danach liegt ein Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung gem. Art. 102 AEUV dann vor, wenn durch die Weigerung einem Unternehmen Zugang zu einem Service zu verschaffen, dessen Teilnahme am relevanten Markt unmöglich wird, weil für den Service keine sinnvollen Alternativen bestehen.
Google hatte probiert zu argumentieren, dass die Kommission ihrer Entscheidung einen zu lockern Prüfungsmaßstab zugrunde gelegt hatte, weil sie die „essential facilities“-Anforderungen nicht geprüft hat. Insbesondere hätte die Kommission, so Google, nachweisen müssen, dass es sich bei Google-Shopping um eine „essential facility“ handelt.
Dem erteilte der EuG, nun bestätigt durch den EuGH, eine Absage. Bei dem Vorwurf ginge es um einen von der „essential facilities“-Doktrin verschiedene Form des Missbrauchs. Die „essential facilities“-Situation zeichne sich demnach dadurch aus, dass im Falle eines Missbrauchs die einzige Lösung ist, dem Betroffenen Zugang zu dem Service zu gewähren (duty to supply).
Hier setze sich der Vorwurf aber aus zwei Komponenten zusammen: (1) Die Besserbehandlung der eigenen Preisvergleichsangebote und (2) die Schlechterbehandlung von anderen Preisvergleichsdiensten. Kern des Vorwurfs ist also nicht, dass Google den konkurrierenden Preisvergleichsdiensten gar keinen Zugang zu den „Kacheln“ von Google-Shopping gewährt, sondern, dass Google den Zugang zur Google-Suche unter ungerechten und für die Konkurrenten nachteiligen Bedingungen gewährt. Deshalb handele es sich um einen „Missbrauch eigener Art“.
C. Der Missbrauch konkret
Das Mantra zum Art. 102 AEUV lautet: Art. 102 AEUV untersagt nicht die Existenz eines marktbeherrschenden Unternehmens als solches, sondern nur den Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung. Oder positiv formuliert: Um einen Verstoß gegen Art. 102 AEUV nachzuweisen, muss bewiesen werden, dass das marktbeherrschende Unternehmen den Bereich des fairen Wettbewerbs verlassen hat.
Die Möglichkeiten um entsprechenden Missbrauch nachzuweisen, sind oft ökonomisch hochkomplexe Analysen. Üblich ist der Begriff der „kontrafaktischen Analyse“, also eine Beurteilung der hypothetischen Marktsituation, hätte es das fragliche Verhalten nicht gegeben. Die Kommission bedient sich auch des „as-efficient-competitor“-Tests, wonach (vereinfacht) ein Missbrauch dann anzunehmen ist, wenn durch das Verhalten ein genauso effektiv wirtschaftender Konkurrent, wie das marktbeherrschende Unternehmen den relevanten Markt nicht ohne dauerhafte Verluste betreten könnte. Die Analyse wird aber dann erleichtert, wenn das Verhalten schon bezweckt den Wettbewerb zu verzerren, dann ist nur noch zu beweisen, dass es auch grundsätzlich dazu geeignet sein kann, die tatsächlichen Marktauswirkungen muss dann das Unternehmen untersuchen und ggf. als entlastende Beweise selbst vorbringen.
Der EuGH bestätigt hier die Auffassung des EuG, wonach die Kommission hinreichend genau gezeigt habe, dass die Eignung einer Wettbewerbsbeschränkung angesichts der Ungleichbehandlung bestand. Dadurch sei Google verpflichtet den Gegenbeweis darüber zu führen, ob das Marktverhalten dennoch keine wettbewerbsbeschränkende Wirkung entfaltet. Die Kommission hätte entsprechende Beweise nicht mehr erbringen müssen, eine kontrafaktische Analyse oder ein „as-efficient-competitor-Test“ seien entbehrlich gewesen.
D. Einordnung
Google hat sich in Europa und den USA augenscheinlich in eine kartellrechtliche Sackgasse manövriert. Das Unternehmenskonzept baut darauf auf „Eine für Alles“ anzubieten – die Suchmaschine, die möglichst viele Fragen über eigene „Module“ beantwortet, so dass Google die Möglichkeit hat das Erscheinen in diesen Ergebnissen zu vermarkten. Kartellrechtlich ist diesem Projekt aber sowohl von den Gerichten als auch vom europäischen Gesetzgeber ein Riegel vorgeschoben worden.
Der Google-Shopping Fall wäre inzwischen nach Art. 6 Abs. 5 Digital Markets Act zu lösen. Bei den Shopping-Ergebnissen handelt es sich um ein diskriminatorisches Ranking. Insoweit wurden hochkomplexe Kartellrechtsfragen schon vom neuen Recht überholt.
Google ist aus ähnlichen Gründen auch in weitere Fälle verwickelt: Unter dem Az. C-233/23 ist beim EuGH ein Fall anhängig, in dem es um Android Auto und die Weigerung von Google geht bestimmte Apps auf dem Betriebssystem verfügbar zu machen. Auch hier legen die kürzlich veröffentlichten Schlussanträge einen Missbrauch unabhängig vom „essential facilities“-Konzept nahe.
In den USA sieht sich Google aktuell zwei Mega-Verfahren ausgesetzt, in einem wurde in der Sache schon entschieden, dass Google durch Zahlungen an Anbieter von Browsern, um als Standardsuchmaschine voreingestellt zu sein, seine marktbeherrschende Stellung missbraucht hat. Hier geht es aktuell nur noch um die Sanktionen. Als zweites Verfahren läuft aktuell eine kartellrechtliche Beurteilung der Google-AdServices, dieses Verfahren könnte potenziell sogar mit einer Zwangsaufteilung des Konzerns enden.
E. Ausblick
Die Verfahren befassen sich im Kern mit der rechtlichen Bewertung einzelner Google-„Module“ und könnten genau deshalb in kurzer Zeit Schnee von gestern sein. Wenn Google erfolgreich seine KI als zentraler Teil der Suchmaschine etabliert stellen sich komplett neue Fragen: Wenn die KI-Antworten vermarktet werden, ist die KI dann „essential facility“? Dürfen die Antworten überhaupt vermarktet werden, wenn bestimmte Unternehmen nicht mal mehr weiter unten in der Liste der Suchergebnisse, sondern gar nicht auftauchen? Kann Google kartellrechtlich für das Verhalten der KI haftbar gemacht werden, wenn das LLM letztlich eine Black-Box ist, auf deren Antworten auch Google nur begrenzt Einfluss hat?
Die Kommission und auch die Rechtsprechung müssen hier schneller reagieren, als sie es bislang getan haben. Für die Google-Verfahren gilt nämlich vor allem: zu wenig, zu spät. Als Marktmacht ist Google etabliert und nicht mehr wegzudenken, sie hätten Marktmissbrauch gar nicht mehr nötig, weil sie durch vergangene Manipulationen eine so gefestigte Position für alle Nutzer erlangt haben, dass sie ohnehin alternativlos geworden sind. Das lässt sich durch keine kartellrechtliche Sanktion mehr rückgängig machen. Bei neuen Technologien sollte nicht derselbe Fehler gemacht werden.