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Trotz einiger Lockerungen bleiben gastronomische Betriebe, Fitnessstudios, zahlreiche Hotels und eine Vielzahl größerer Einzelhandelsgeschäfte geschlossen. Dies aufgrund der Corona-Rechtsverordnungen, die es in allen Bundesländer gibt und die sich auf § 32 Infektionsschutzgesetz (IfSG) stützen. Dies verstößt gegen den Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG, führt zu Entschädigungspflichten und wird für die Bundesländer sehr teuer werden.

Rechtsgrundlage: § 32 IfSG

Die Rechtsgrundlage für alle Corona-Verordnungen der Bundesländer ist § 32 Satz 1 IfSG:

„Die Landesregierungen werden ermächtigt, unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen.“

Betriebsschließungen sind in den §§ 28 bis 31 IfSG nicht ausdrücklich vorgesehen. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG berechtigt jedoch die zuständigen Behörden zu „notwendigen Schutzmaßnahmen“:

„Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen…“

Aus § 32 und § 28 IfSG leiten die Landesregierungen die Befugnis ab, Betriebsschließungen als „notwendige Schutzmaßnahmen“ per Rechtsverordnung anzuordnen, ohne dass die Landesparlamente beteiligt werden.

Betriebsschließungen greifen in das Eigentum der Betriebsinhaber ein, das durch Art. 14 GG geschützt ist. Art. 14 GG wird indes in § 28 IfSG nicht erwähnt. Wer daher Betriebsschließungen auf § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG stützt, setzt sich über das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 GG hinweg.

Verfassungsrechtliche Grundlage: Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG

§ 32 IfSG ist ein Bundesgesetz, durch das Landesregierungen – an den Länderparlamenten vorbei – zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigt werden. Dies ist nach Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG zulässig:

„Durch Gesetz können die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierungen ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen.“

Verfassungsrechtliche Schranke: Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG

Die Befugnis, per Bundesgesetz Landesregierungen zum Erlass von Rechtsverordnungen zu ermächtigen, gilt nicht unbeschränkt. Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG markiert die Grenzen:

„Dabei müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetze bestimmt werden.“

Auf den ersten Blick scheint § 32 IfSG diesen Anforderungen gerecht zu werden:

  • Inhalt und Ausmaß: Der Inhalt und das Ausmaß der Verordnungen geht aus den §§ 28 bis 31 IfSG hervor. Dort werden verschiedene Maßnahmen des Infektionsschutzes umschrieben.
  •  Zweck: Der Zweck ergibt sich unmittelbar aus dem Wortlaut des § 32 IfSG („Bekämpfung übertragbarer Krankheiten).

Verfassungsrechtliche Schranke: Wesentlichkeitsdoktrin

Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG ist eine Ausprägung des Wesentlichkeitsgrundsatzes. Dies hat das BVerfG zuletzt in seinem Zensus 2011-Urteil betont:

„In der Ordnung des Grundgesetzes trifft die grundlegenden Entscheidungen das vom Volk gewählte Parlament. In ständiger Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht daher aus grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) einerseits sowie dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) andererseits die Verpflichtung des Gesetzgebers abgeleitet, in allen grundlegenden normativen Bereichen die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen…

‚Wesentlich‘ bedeutet danach zum einen ‚wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte‘… Eine Pflicht des Gesetzgebers, die für den fraglichen Lebensbereich erforderlichen Leitlinien selbst zu bestimmen, kann insbesondere dann bestehen, wenn miteinander konkurrierende Freiheitsrechte aufeinandertreffen, deren Grenzen fließend und nur schwer auszumachen sind. Dies gilt vor allem dann, wenn die betroffenen Grundrechte nach dem Wortlaut der Verfassung vorbehaltlos gewährleistet sind und eine Regelung, welche diesen Lebensbereich ordnen will, damit notwendigerweise ihre verfassungsimmanenten Schranken bestimmen und konkretisieren muss. Hier ist der Gesetzgeber verpflichtet, die Schranken der widerstreitenden Freiheitsgarantien jedenfalls so weit selbst zu bestimmen, wie sie für die Ausübung dieser Freiheitsrechte erforderlich sind… Der Gesetzgeber ist zum anderen zur Regelung der Fragen verpflichtet, die für Staat und Gesellschaft von erheblicher Bedeutung sind…“

(BVerfG vom 19.9.2018, Az. 2 BvF 1/15, 2 BvF 2/15, Rn. 191 und 195)

Jedenfalls im Hinblick auf Betriebsschließungen genügt § 32 IfSG diesen Anforderungen nicht. Die Betriebsschließungen greifen tief in das Eigentum der Betriebsinhaber ein (Art. 14 GG), und weder § 32 IfSG noch den §§ 28 bis 31 IfSG ist ein Maßstab zu entnehmen für die Abwägung zwischen dem Gesundheitsschutz einerseits (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und dem Eigentum andererseits (Art. 14 GG). Diese Abwägung wird vollständig den Landesregierungen überlassen. Mit der Wesentlichkeitsdoktrin ist dies unvereinbar.

Verfassungsrechtliche Schranke: Eingriff in Landesbefugnisse

Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: § 32 IfSG berechtigt die Landesregierungen, Rechtsverordnungen zu erlassen, ohne dass der Norm zu entnehmen ist, ob und unter welchen Voraussetzungen die Landesregierungen solche Verordnungen erlassen.

Um den Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG zu genügen, muss eine gesetzliche Ermächtigung nicht nur die Inhalte einer Rechtsverordnung umschreiben, die eine Landesregierung erlassen darf. Es bedarf darüber hinaus einer Vorgabe zu dem „Ob“ der Verordnung. Die Entscheidung über den Erlass einer Verordnung darf nicht vollständig den Landesregierungen überlassen werden:

„Darüber hinaus wird die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers im Verhältnis zum Verordnungsgeber im Hinblick auf den Vorrang des Gesetzes dann nicht mehr gewahrt, wenn die erteilte Ermächtigung es dem Adressaten überlässt, nach Belieben von ihr Gebrauch zu machen, und erst dadurch das Gesetz anwendbar wird.“

(BVerfG vom 8.6.1988, Az. 2 BvL 9/85, 2 BvL 3/86, Rn. 59)

Fazit

Die Praxis der Landesregierungen, Betriebsschließungen als „notwendige Schutzmaßnahmen“ gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG zu verstehen und auf dieser Grundlage Schließungen per Rechtsverordnung anzuordnen, verletzt Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG in mehrfacher Hinsicht:

  • Es ist bereits zweifelhaft, ob es dem Bestimmtheitsgrundsatz genügt, Betriebsschließungen auf der Grundlage des IfSG anzuordnen, obwohl Betriebsschließungen im IfSG nicht ausdrücklich erwähnt werden. Die Betriebsschließungen sind ein gravierender Eingriff in das Eigentum (Art. 14 GG). Das Bestimmtheitsgebot verbietet es, derartige Eingriffe vorzunehmen auf der Grundlage unbestimmter gesetzlicher Begriffe („notwendige Schutzmaßnahmen“).
  • Gegen eine Anwendung des § 28 IfSG auf Betriebsschließungen spricht auch, dass Eingriffe in das Eigentum (Art. 14 GG) in § 28 IfSG nicht erwähnt werden. Daher lässt sich aus dem verfassungsrechtlichen Zitiergebot (Art. 19 Abs. 1 GG) ableiten, dass solche Eingriffe nicht zulässig sind.
  • In § 28 und § 32 IfSG fehlt es an jedwedem Maßstab für eine Abwägung zwischen dem Gesundheitsschutz einerseits (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und dem Eigentum andererseits (Art. 14 GG). Daher verstößt es gegen den Wesentlichkeitsgrundsatz, per Rechtsverordnung Betriebsschließungen auf der Grundlage des § 32 IfSG anzuordnen, ohne dass § 32 IfSG Abwägungsmaßstäbe vorgeben. Betriebsschließungen überschreiten die Grenzen, die Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG setzt.
  • Zu guter Letzt gibt § 32 IfSG kein „Ob“ vor. Der Erlass von Verordnungen wird in das Belieben der Landesregierungen gestellt. Auch dies verstößt gegen Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG.

Eingriffe in das Eigentum ohne hinreichende gesetzliche Grundlage kommen einer entschädigungspflichtigen Enteignung gleich. Die Rechtswidrigkeit der Betriebsschließungen wird daher für die Bundesländer äußerst teuer werden.