Das BVerfG hat mit Urteil (Az. 1 BvR 1160/19) vom 01.10.2024 die zentralen Befugnisnormen für die Speicherung und Verarbeitung personenbezogener Daten im BKA-Gesetz für verfassungswidrig erklärt. Dadurch fallen bis Mitte kommenden Jahres, genau bis 31.07.2025, die Rechtsgrundlagen insbesondere für die sog. „Datei Gewalttäter Sport“ weg, wenn sie nicht entsprechend der verfassungsgerichtlichen Vorgaben nachgebessert werden. Die aktuelle Rechtsgrundlage weist demnach rechtsstaatlich erhebliche Lücken auf, es fehlt an einem ausdrücklichen Speicherungszweck, einer hinreichenden Speicherungsschwelle und an einer vorbestimmten Speicherdauer. Das wird voraussichtlich weitreichende Auswirkungen für das Vorgehen der Polizei in der Fußball-Fan-, Ultra- und Hooligan-Szene haben.
Übersicht
A. Die Datei Gewalttäter Sport
Die „Datei Gewalttäter Sport“ ist eine bundesweite Verbunddatei zur Speicherung von Daten über Beschuldigte von Straftaten im Zusammenhang mit Sportveranstaltungen. „Beschuldigte“ sind alle Personen, gegen die ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, ungeachtet des Ausgangs. Erfasste Straftaten sind insbesondere die klassischen „Milieutaten“, Landfriedensbruch (§ 125 StGB), Hausfriedensbruch (§ 123 StGB), Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB), Straftaten gegen Leib oder Leben oder fremde Sachen (§§ 211ff., 223ff. 303ff. StGB) und viele weitere Delikte, die im Zusammenhang mit Fußballspielen auftreten.
Die Datei besteht seit 1994. Seit 2006 beteiligen sich, damals aufgrund der WM, alle Länder und die Bundespolizei aktiv an der Datei. Seit der Rekordzahl von 13102 Eintragungen im Jahr 2011 sind die Zahlen kontinuierlich rückläufig. Ende 2023 waren noch 5712 Personen in der Datei eingetragen (BT Drs. 20/080). Die Datei war auch schon mal Gegenstand bundesgerichtlicher Auseinandersetzung als das Bundesverwaltungsgericht im Jahr 2010, damals noch auf anderer Rechtsgrundlage, den Anspruch eines Betroffenen auf Löschung aus der Datei verneint hatte (Az. 6 C 5/09). In der Folge wollte der Gesetzgeber aber nachbessern und eine rechtssichere Grundlage für die Datei schaffen.
Im Zusammenhang mit der EM dieses Jahr stand die Datei wieder im Mittelpunkt medialer Berichterstattung, weil mehr als 700 ausländische Fans kurz vor Beginn der EM neu eingespeichert wurden (BT Drs. 20/12576). Polizeiliche Sicherheitsmaßnahmen bei Fußballspielen haben sich regelmäßig auf den Datenbestand in der Datei konzentriert. Auch im Ligaalltag ist das der Fall. Auf Grundlage der Datei erfolgen Gefährderansprachen, Aufenthaltsverbote und Meldeauflagen, um Gewalt in der Ultra- und Hooligan-Szene einzudämmen. Für Betroffene bedeutet ein Erscheinen in der Datei regelmäßig eine erhebliche Einschränkung der persönlichen Lebensgestaltung, weil sie an der Teilnahme von Spielen ihres Vereins polizeilich gehindert werden. Die persönliche Verbundenheit der aufgeführten Personen erklärt auch, warum die Fälle so oft vor Gericht landen. So finden sich allein im letzten Jahr höchstrichterliche Entscheidungen des BayVGH, des OVG Bremen und des BVerwG zu in der Datei aufgeführten Personen. Darin wird das Erscheinen in der Datei zumindest von der Polizei immer wieder als Indiz für die Gefahrenprognose aufgeführt.
Besonders kontrovers diskutiert wird, dass die Betroffenen (1.) nicht aktiv von ihrer Auflistung informiert werden und (2.) dann beispielsweise bei der Ausreise aus Deutschland von Maßnahmen überrascht werden und (3.) dass die Menge an falsch positiven Ergebnissen in der Datei erschreckend hoch sein soll.
Wer sich besonders eingehend mit der Datei auseinandersetzen möchte, dem sei die Lektüre der Antwort auf ein Informationsfreiheitsersuchen aus dem Jahr 2018 empfohlen, die die gesamte Einrichtungsanordnung des BKA für die aktuelle Datei wiedergibt und auf die Kleine Anfrage der Fraktion FDP aus dem Jahr 2021 oder diese Folge unserers Sportrechtspodcasts mit Fananwalt René Lau:
B. Die neue Rechtsgrundlage
Das System der Verbunddateien wurde 2017 im Zuge der Novelle des BKAG reformiert und ist jetzt in den §§ 13 Abs. 3, 18 Abs. 1, 2, 29 BKAG zu finden. Konkret stützt sich die Speicherung der Daten aus der Fußballszene auf § 18 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 iVm § 29 BKAG. § 18 BKAG ermächtigt letztlich dazu, Daten über Personen, die Beschuldigte in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren waren, zur weiteren Nutzung in einer Verbunddatei nach § 29 BKAG zu speichern.
Darüber hinaus können auch Daten von sog. Anlasspersonen gespeichert werden (§ 18 Abs. 1 Nr. 4 BKAG). Das sind Personen, die nicht Beschuldigte sind, bei denen aber durch die Gefahr der Begehung von Straftaten von erheblicher Bedeutung in der Zukunft dennoch ein Anlass für die Speicherung besteht. Die Beschwerdeführer sind aber als Beschuldigte betroffen und rügen nur § 18 Abs. 1 Nr. 2 BKAG.
C. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Das Urteil befasst sich mit § 18 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 BKAG im Hinblick auf die Datei. Beschwerdeführer sind zwei in der Datei aufgeführte Personen, davon ist einer der Ultra-Szene zuzuordnen und einer der aktiven Fanszene (wobei die Grenzen fließend sind). Sie tragen vor, dass sie durch die Speicherung in der Datei in ihrem Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 1 Abs. 1 iVm 2 Abs. 1 GG verletzt werden. Daneben geht es auch um die Eingriffsbefugnisse in Bezug auf Kontaktpersonen zur Terrorismusbekämpfung (§§ 45, 39 Abs. 2 BKAG) und die Datenweiterverarbeitung innerhalb des BKA (§ 16 BKAG), das soll aber nicht Gegenstand des Beitrags sein.
I. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist eine richterrechtliche Fortbildung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts und hat im Laufe seines nun schon knapp über 40-jährigen Bestehens erhebliche Konkretisierungen durch das BVerfG erfahren. Das Recht schützt den Einzelnen darin, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten bestimmen zu können. Es flankiert und erweitert den Schutz der Persönlichkeit unter den Bedingungen moderner Datenverarbeitung. Insbesondere soll es den Einzelnen davor schützen sich einer unbegrenzten Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten ausgesetzt zu sehen. Als Gegenentwurf zum Mantra „Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten“, geht das Recht davon aus, dass schon die flächendeckende Datenerhebung und -verwendung negative Effekte für die Persönlichkeitsentwicklung und die Rechtsstaatlichkeit hat, da sie zu Anpassungseffekten führen kann. Wer sich immer und überall beobachtet fühlt, der verzichtet möglicherweise auf solche Dinge, die erlaubt, aber nonkonform wären.
II. Eingriff durch Speicherung in der Datenbank
Ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung liegt bei jeder Erhebung, Speicherung oder sonstigen Verwendung von Daten vor. Dabei gilt der sog. Zweckbindungsgrundsatz, wonach Daten immer zu einem bestimmten Zweck erhoben werden, was nur in Bezug auf diesen Zweck gerechtfertigt ist. Wenn dieselben Daten jetzt zu einem anderen Zweck verwendet werden sollen, dann liegt ein neuer Eingriff vor, der wieder gerechtfertigt werden muss.
Die Besonderheit ist hier, dass die Daten zweckgebunden erhoben werden (für das ursprüngliche Ermittlungsverfahren) und dann aber „zwecklos“ gespeichert werden. Die Speicherung erfolgt rein vorsorglich, falls sich in Zukunft ein neuer Zweck auftun sollte. Insoweit stellt das BVerfG klar, dass die vorsorgliche Speicherung in sich schon eine Zweckänderung ist und deshalb der Rechtfertigung bedarf. Damit liegt ein Eingriff vor.
III. Keine Rechtfertigung
Der § 18 iVm § 29 BKAG scheitert an seiner Einfachheit. Er erlaubt die Speicherung immer schon dann, wenn eine Person irgendwie Beschuldigter in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren war. Das genügt dem BVerfG nicht. Die Speicherung selbst muss durch eigene Gründe gerechtfertigt werden und kann nicht pauschal erfolgen. Die Norm ist deshalb verfassungswidrig, weil es an einer Zweckbindung der Speicherung, einer hinreichenden Speicherschwelle und einer Begrenzung der Speicherdauer mangelt.
Die Speicherung „einfach so“ entspricht nicht dem Sinn und Zweck des BKAG. Sie kann nur zweckgebunden zur Prävention weiterer Straftaten oder sonstiger Gefahren erfolgen. Deshalb muss es auch eine Speicherschwelle geben. Der Gesetzgeber muss festlegen, unter welchen konkreten Voraussetzungen davon ausgegangen werden darf, dass die Daten in Zukunft weiter zu einem präventiven Zweck gebraucht werden. Dafür muss eine hinreichende Wahrscheinlichkeit bestehen, dass die Personen im Zusammenhang mit der Strafverfolgungsvorsorge oder Gefahrenabwehr erneut auffällig werden. Dafür reicht die einmalige Betroffenheit durch ein Ermittlungsverfahren nicht aus. Das Gericht gibt den Hinweis mit, dass man hier an die Täterperson, die Tat oder Begleitphänomene anknüpfen könnte, um eine in die Zukunft gerichtete Wahrscheinlichkeitsprognose rechtssicher zu gestalten.
Aktuell werden die Daten auch erst dann gelöscht, wenn der Speicherungszweck wegfällt. Das ist – weil es eben gar keinen genauen Speicherungszweck gibt – denkbar ungenau. Auch daran stört sich das BVerfG. Es gibt dem Gesetzgeber auf eine konkrete Speicherdauer zu bestimmen und weist daraufhin, dass mit fortschreitender Speicherdauer die Prognose, dass die Speicherung erforderlich war, immer unwahrscheinlicher wird.
D. Bewertung und Ausblick
Das Urteil kommt nicht unerwartet. Die bisherige Regelung war rechtsstaatlich bedenklich und blauäugig. Die Schwelle der Beschuldigteneigenschaft ist zur Rechtfertigung einer umfassenden Datenspeicherung ungeeignet. Wer Beschuldigter im Rahmen der Fußball-Fanszene wird, hat darauf zwar regelmäßig durch sein eigenes Verhalten, nicht selten aber auch gar keinen Einfluss. Gerade bei Auswärtsfahrten ist das „Kesseln“ und massenhafte Aufnehmen von Personalien wegen möglicher versammlungsrechtlicher Verstöße oder Straftaten im Sachzusammenhang (insbes. §§ 113ff., 120, 123, 125 StGB) keine Seltenheit. Die Schwellen dafür sind polizeirechtlich niedrig. Die Gefahrenprognose ist nämlich bei Hochrisikospielen eigentlich immer gegeben.
Aus der Kombination von polizeirechtlich niedrigschwelligen Eingriffsbefugnissen, dem schnellen Schritt in die mögliche Strafbarkeit bei Versammlungen und „Fanmärschen“ und den fehlenden Schwellen zur Speicherung der ermittelten Daten, hat man der Polizei einen gesetzgeberischen Freibrief zur Anlegung von umfangreichen Datenbeständen verschafft, der rechtsstaatlich keinen Bestand haben kann.
Hier korrigiert das BVerfG zu Recht. Die gewaltbereite Fußball-Szene hat (verständlicherweise) keine Lobby und ist deshalb gern gewählter Prüfstand für polizeirechtliche Vorhaben. Mithaften tut dafür aber die gesamte aktive Fanszene und Ultra-Szene, die keinesfalls geschlossen gewaltbereit sind. Dabei aus fehlender Sympathie zu den Betroffenen die Rechtsstaatlichkeit auf der Strecke zu lassen, ist wenig überzeugend und darüber hinaus auch nicht von messbarem Erfolg gekrönt, wie verschiedene Recherchen in den letzten Jahren gezeigt haben.
Das letzte Stündlein der Datei hat deshalb aber wohl noch nicht geschlagen. Das BVerfG sagt selbst:
„Die durch diese Vorschrift ermöglichte vorsorgende Speicherung ist unter engen Voraussetzungen, zu denen eine hinreichende Speicherschwelle gehört, rechtfertigungsfähig.“
Das Urteil ist gespickt mit konkreten Hinweisen für den Gesetzgeber und einer Übergangsfrist, die zumindest noch die laufende Bundesligasaison einschließt (bis Juli 2025). Damit sollte klar sein: der Gesetzgeber wird einen neuen Anlauf versuchen. Das war im Koalitionsvertrag der Ampel auch ohnehin geplant.